„Papa Lomotive schaunen“?! Kann man da widerstehen? Schlagartig wurde mir klar: Es ist wieder einmal Zeit, dem Hauptbahnhof einen Besuch abzustatten. Mein jüngster Sohn Simon – wie auch sein älterer Bruder Felix vor ihm - hatte wieder einmal meine innersten Gedanken erraten. Er kannte sich in den Wirrungen meiner geheimsten Wünsche besser aus als ich. Sie waren anscheinend latent vorhanden, aber sie fanden irgendwie nicht den Weg, sich als aktiver Willensakt durch eine eigene und laute Kundgabe meinerseits zu äußern. Gleich einem Tiefenpsychologen oder einer altgriechischen Seherin war Simon in der Lage, meinem ungeordneten Bewusstsein Form zu geben und meine Abneigung Zügen gegenüber als falsche Projektion zu entlarven. Wie so oft im Leben bedarf es eben der richtigen Führung.
Zug? Kein feiner…
Eisenbahnen habe ich eigentlich nie gemocht – vielleicht, weil ich selbst eine Spielzeugbahn nie besaß. Die hatte mein gleichaltriger Cousin. Er hatte eine kleine hübsche Lokomotive mit drei bis vier Wagons, die denen entsprachen, die noch zwischen Köln und Mannheim auf dem Loreley Express in den 60ger und 70ger Jahren des vergangenen Jahrhunderts im Einsatz waren. Ich hingegen besaß eine silbergraue, aerodynamisch geformte Zigarre, eine Alweg-Bahn. Meine Eltern hatten mir diesen plastikgewordenen Traum eines nie realisierten Monorail-Bahnprojektes einst zu Weihnachten geschenkt. Sie förderten damit zwar schon in den frühen Tagen meiner Kindheit Tendenzen zum Futuristischen, aber auch die verzweifelte Sympathie zu einer gewissen technischen Hybris. Die Wucht, die Dynamik der Alweg-Bahn zerrte sehr heftig an ihren schlanken enggekoppelten Bauteilen, sodass die gestalterische Idee, die ihr zugrunde lag, gleichsam mit ihr aus der Kurve flog. Als Technologiewunder fand sie schon nach kurzer Zeit wegen unüberbrückbarer technischer Probleme ihr frühes Altenteil zwischen zerschlissenen Plüschtieren und demolierten Spielautos. Irgendwie nahm diese wundervolle und schnelle Einspurbahn das seltsam schmachvolle Ende des Transrapids in Deutschland schon in meinem Kinderzimmer vorweg.
Aber was ich damals noch nicht wusste, ja nicht einmal ahnte, war, dass zukunftsweisende Dinge nur dann eine Chance haben und man dem Charme einer - auch einer visionären - Idee nur dann erliegt, wenn sich ihnen ein Fremder oder ganz und gar Unbelasteter ihrer Faszination hingibt und mit Leidenschaft Realität werden lässt. Wie das die Chinesen nun mit ihrem eigenen Transrapid tun werden und damit die Weiten ihres Landes zu Tagesreisen schrumpfen lassen.
Oder, sobald ein kleiner Junge mit einem Brio-Holzzug in der Hand zu seinem Vater sagt: „Lomotive schaunen“.
Nicht nur Pläne brauchen eine gewisse Reife, man muss auch Vater werden, um zu einem Bahn-Aficionado zu werden - beinahe. Schon mein Ältester hatte sich für Züge begeistert. Und, da wir damals unweit des Münchner Hauptbahnhofes wohnten, trieb uns schon seine kindliche Begeisterung häufiger mehr dorthin, als mein echtes Interesse.
Bahnhof-Roulette
Auf dem Münchner Hauptbahnhof fahren seit eh und je auf seinen vielen Gleisen unablässig ICEs, Intercities und Regionalzüge ein. Immer gab es etwas Neues zu sehen. Und für die Kinderseelen meiner beiden Söhne war das dort herrschende Getöse Labsal. Genauso wie in der geregelten Geschäftigkeit eine höhere Macht zu walten schien, die hin und wieder jedoch von lustiger Hektik unterbrochen wurde, weil diese monotone Perfektion durch falsche Ankündigungen in panikhafter Unrast mündete. Einmal warteten wir mit meiner über achtzigjährigen Großmutter auf den Mimara Express, der sie über Salzburg nach Gastein bringen sollte. Etwa 10 Minuten vor seinem kurzen Zwischenstopp in München, verwandelte eine kurze Durchsage die schläfrige Lethargie des Perrons in pure Hetze. Eine diabolische verzerrte Stimme hatte uns Wartenden mitgeteilt, dass technische Probleme den gleich einfahrenden Express zwängen, auf einem ungefähr fünf Gleise entfernten Bahnsteig einzufahren. Für die Passagiere der I. Klasse kaum ein Problem, denn der Service eines Sackbahnhofes gewährte ihnen komfortables Aussteigen in fußläufiger Nähe zur Bahnhofshalle. Für den Bahnkunden aus der II. Klasse war die Durchsage gleichbedeutend mit einem weitläufigen Hindernislauf. Mit Sack und Pack bei der klassischen Viertelmeile eines deutschen Durchschnitt-Zuges eine hübsche Anstrengung. Gleich dem schäumenden Erguss einer geschüttelten Sektflasche rasten die Wartenden - wir eingeschlossen – gepäckbeladen in einem breiten Strom zurück zum Ende des Steigs, um noch rechtzeitig den umgeleiteten Zug zu erreichen. Endlich dort angelangt, verschwitzt, nach Atem ringend, erfuhren wir von einer bedauernden, aber im Grunde fröhlichen Stimme, dass unser Mimara Express doch wie geplant ungefähr in einer Minute auf seinem Stammgleis kurz zur seiner Abfahrt bereit stünde.
Heißa, war das lustig! Felix, meinem Ältesten gefiel das. Hier brach plötzlich wildes Leben aus. Hatte die Menschenmenge bei unserer kleinen Exkursion zum neuen Geleis quasi geblubbert, so kochte sie jetzt - über. Zischend und fauchend bewegten sich die rasenden Reisenden. Felix gefiel das. Erst ein paar Wochen zuvor hatten wir uns den Ökokalypsen-Film „Koyaanisqatsi“ gekauft. Jetzt erlebte Felix augenscheinlich, hautnah-live und zukunftsweisend in 3D die Wirklichkeit dieses außergewöhnlichen Films.
„Die Bahn kommt“ – und wie!
Der Werbeslogan der Bundesbahn in den sechziger und siebziger Jahren war für uns sowohl Verheißung als auch Drohung. Denn oft kam die Bahn nicht! Jedenfalls nicht zum vorgesehenen Zeitpunkt. Dies kam gar nicht so selten vor. Und so fanden sich gestrandete Verwandte und Freunde immer wieder bei uns ein. Sie hofften auf mehrstündige Unterhaltung zwischen Holzkirchner und Starnberger Bahnhof, oder drängten gar auf häusliche Aufnahme und Unterkunft. Vorbei waren die Zeiten, in denen die Bahn das Maß der Pünktlichkeit war. Selbstverständlich waren diese Zeiten noch analog! Eine Heerschar engagierter Beamter kümmerte sich damals mit Leidenschaft um ihre Passagiere. Aber seit die Bundesbahn ihre Uhren im Hinblick auf den Börsengang digitalisiert hatte, wurden viele jener fleißigen Beamte durch smarte Manager, wurde echte Effizienz zuungunsten vermeintlicher Wirtschaftlichkeit, zeitliche Abstimmung durch scheinbare Pünktlichkeit, läss(t)ige Professionalität zu Lasten Freundlichkeit ersetzt: Man hatte sozusagen das Profit-Optimum ermendelt und die Dienstleistungen bis zum unüberbietbaren Maximum strapaziert!
Dieser unbedingte Wille zum zeitgemäßen Service - irgendwie – erzwang Aufenthalte und uns viele Gäste. Meine Söhne, sofern im Bahn-affinen Alter freuten sich. Bescherten uns doch die überraschenden Besuche einen erneuten Bummel über den Hauptbahnhof, die die plötzlichen Besuche der Ur-Oma, Omas und Opas, Tanten und Onkeln oder von zum Teufel sonst jemanden in einen größeren, sinnvollen und übergeordneten Zusammenhang brachten.
Kennzeichnend für ihn war, dass sie stets mit: „Papa! Lomotive schaunen?!“, eingeleitet wurden.
Christian ganz Anders – oder, da müssen Sie sich aber beeilen!
Denn Bahn und Bahnhof verhießen meistens irgendein Missgeschick. Sei es als Reisender oder als Besucher. Dennoch machten die Umstände ihre Nutzung von Zeit zu Zeit notwendig. „Lomotive schaunen“ oder ein Vorstellungsgespräch in einer anderen Stadt konnten so ein Anlass sein. Aber mit einer kleinen Familie in München unterwegs zu sein, macht es oft schwierig, rechtzeitig und früh genug im richtigen Zugabteil zu sitzen. Vor allem dann, wenn man keine Zeit hat die „Wagenstandsanzeige“ – tolles Wort auch für Mark Twain, Gott hab ihn selig - genau zu studieren und sich auf die Aussagen irgendeines sehr jungen uniformierten Bahnbeamten verlässt. „Da müssen sie sich aber wirklich beeilen! Am Besten sie steigen gleich hier in die zweite Klasse ein“. Verständlich, dass man sich für den nächsten Wagon entscheidet.
Man ist ja oft das Warten gewohnt. Wenn es aber in einem bequemen Abteil stattfindet, das man ganz für sich alleine hat, freut man sich besonders. Obwohl davon ein wenig verwundert, denkt man sich, nur gut, dass die Bahn auch unrentablere Strecken weiter bedient. Schön, dass die
Menschen dort und auch wir auf dem Weg zu ihnen durch die Bundesbahn mit ihnen verbunden sind. Herrlich!
Man gerät ins verträumte Schwärmen und beglückwünscht sich zu dem Entschluss, nicht das Auto, sondern dem Zug den Vorzug gegeben zu haben. Ein gutes Gefühl! Doch geht es dann nicht zu richtigen Zeit los, hält man es noch ein paar Minuten im Abteil aus, geht dann den Gang herunter, öffnet die Wagontür und stellt fest, dass man abgehängt worden ist und sich in einem Zug nach Nirgendwo befindet.
Gott sei Dank sieht man unweit von sich den freundlichen Bahnbeamten von eben stehen, der einem kurz vorher den so hilfreichen Tipp gegeben hat. „Sie sind ja noch da, wollten Sie nicht… Aber das war doch nicht so wörtlich gemeint – natürlich weiter hinten hätten Sie einsteigen sollen. Das weiß doch jeder!“. Immer noch entspannt von der einsamen Ruhe des Abteils und vom vergeblichen Warten auf die Abfahrt macht man sich auf den Weg zur Infotheke der Bahn, um sein Ticket umzutauschen. Auch hier ist die herzzereißende Freundlichkeit überwältigend. „Da müssen Sie neu lösen“. Und, „da hätten Sie sich aber auch informieren können, was hören Sie auch auf die Anweisungen irgendeines jungen Beamten…“.
Ich greife zu meinem Handy, rufe zu Hause an und sage meinem Sohn: „Lomotive schaunen“?